Am östlichen Sporn des unteren Buechberg gelegen, an der bedeutenden Übergangsstelle über die Linth, erhebt sich das Schloss Grynau mit seinem hoch aufragenden Turm. In seinen weiten, dunklen Räumen scheint es nicht immer mit rechten Dingen zuzugehen. Alle hundert Jahre erscheint nämlich der Schlossgeist, ein schwarzer Mann mit struppigem Bart und bösen Augen. Er wandert im Schloss herum. Wer das Unglück hat, ihm zu begegnen, muss eine harte Probe bestehen.
Eines Tages verirrte sich ein fremder Barbier im Treppenhaus. Neugierig schaute er sich um und gewahrte plötzlich in einer Ecke eine schwarze Gestalt, den Schlossgeist. Dieser deutete dem zitternden Fremden, ihm zu folgen.
Gehorsam stieg der Bartscherer dem Schlossgeist nach ins oberste Turmzimmer. Dort setzte sich das Ungeheuer auf einen alten Stuhl und forderte den Barbier auf, ihm den struppigen Bart zu scheren.
Der Fremde fasste sich ein Herz und begann, die langen Gesichtshaare des Schlossgeistes einzuseifen. Dann scherte er ihm langsam und vorsichtig den Bart. Während dieser Prozedur öffnete sich langsam der Mund des Geistes, und die Zunge versuchte, Sich frische Luft zu verschaffen.
Sie wurde zunehmend grösser und breiter. Es war ein grässlicher Anblick. Der Barbier aber schabte munter drauflos.
Als jedoch die Zunge immer weiter aus dem Mund herauskam, und stets grösser wurde, verliess ihn der Mut. Der Barbier warf das Rasierzeug in eine Ecke und floh Hals über Kopf die Stiege hinunter, immer zwei bis drei Stufen überspringend. Während er so die Treppe hinunter eilte, streifte er einige Säcke, die mit Welschkorn gefüllt waren. Unversehens ergriff er eine Handvoll davon und steckte sie in seine Hosentasche. Der Schlossgeist aber polterte fürchterlich und brüllte mit schrecklicher Stimme: „Nochmals hundert Jahre warten!“ Als sich der Scherer von seinem Schrecken erholt hatte, griff er in seine Tasche, und siehe da: Das Korn war zu lauter Goldkörnern geworden. Hätte er den Schlossgeist erlöst, wäre alles Korn in Gold verwandelt worden. (aus "kleine Sagensammlung der March")